Flucht und Vertreibung vor 75 Jahren
Flucht und Vertreibung vor 75 Jahren
Diakon und Ortsheimatpfleger Erwin Winkler war als Kind von diesem Schicksal betroffen und schaut auf die damalige Zeit zurück:
Im Frühjahr 1946, besetzten die polnischen Truppen Schlesien und vertrieben die deutsche Bevölkerung. Millionen von Menschen, die nur das mitnehmen durften, was sie auf dem Leibe trugen, wurden in Güterzüge gestopft und nach Mittel- und Westdeutschland transportiert.
Im Juli 1946 kam ein solcher Transport in Brakel an. In der dortigen Stadthalle war ein Massenquartier vorbereitet, das die Vertriebenen aufnahm. Nach einigen Tagen wurden die Menschen nach einem bestimmten Schlüssel verteilt. Eine Gruppe wurde mit LKW auf die Dörfer westlich von Brakel gebracht; der Rest kam in die Stadt Höxter.
In Höxter waren entlang des Wall`s vom Berliner Platz bis zur Roonstr. Baracken errichtet, in denen die Vertriebenen untergebracht wurden. Auf dem gegenüber liegenden freien Platz, auf dem heute die Nikolaischule steht, war eine „Volksküche“ aufgebaut, aus der die Menschen verpflegt wurden. Nach ca. 10 Tagen erfolgte die Verteilung der Menschen nach einem bestimmten Schlüssel auf die Stadt Höxter und die umliegenden Dörfer.
In Lüchtringen wurde in der alten Schule an der Bergstr. (heute Allenbergstr.) ein Massenquartier eingerichtet, das die Vertriebenen aufnahm.
Nun begann die Herkulesaufgabe, für diese Menschen Wohnungen zu beschaffen. Das konnte nur gelingen, wenn die einheimische Bevölkerung bereit und in der Lage war, diese Menschen in ihre Häuser aufzunehmen. Die Vertriebenen gingen von Haus zu Haus und bettelten um wenigstens ein Zimmer für sich und ihre Familien.
Im Sommer 1946 war die Wohnungssituation im Dorf bereits sehr angespannt. Die wenigen freien Räume hatten in den Jahren 1943, 44 und 45 bereits die Evakuierten aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet, deren Wohnungen dort bei Bombenangriffen zerstört waren, belegt. Hinzu kam, dass ein Wohnhaus in dieser Zeit in der Regel aus einer Küche, bestenfalls zwei Schlafzimmern und einer Wohnstube bestand, in dem eine Familie mit mehreren Kindern wohnte. Die Kinder schliefen oft schon zu zweit in einem Bett. Auf dem Grundstück befand sich meistens noch ein relativ großer Stall für Ziegen, Schweine und das Federvieh.
In dieser Zeit hatte Lüchtringen mehr als 500 Ziegen, die täglich von einem Ziegenhirt in der Gänseweide gehütet wurden. Unter diesen Umständen war es natürlich äußerst schwer, für die in der alten Schule untergebrachten Menschen Wohnraum zu beschaffen. Wen wundert`s, dass da auch zunächst die Predigten des Pastors und Vikars, die Sonntag für Sonntag an das Gewissen und auf die Pflicht zur Nächstenliebe appellierten, erfolglos waren.
Dann aber hatte Vikar Heinz Pieper eine blendende Idee, ging zu seinem Pfarrer Hubert Fuest und sagte: „Wir beide haben jeder ein großes Haus, wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen und nehmen deshalb jeder eine Familie auf.“ Pastor Fuest fand den Vorschlag gut und wunderte sich, -wie er später einmal sagte- dass er nicht selbst darauf gekommen war.
Vikar Pieper befürchtete aber noch eine weitere Schwierigkeit; denn unter den Vertriebenen gab es nicht nur katholische, sondern auch sehr viele evangelische Christen, und es war zu befürchten, dass die Evangelischen in dem rein katholischen Dorf, in dem es bis dahin nur fünf evangelische Familien gab, benachteiligt würden. Das Wort „Ökumene“ war in dieser Zeit wirklich ein Fremdwort. Deshalb nahm der Vikar eine evangelische Familie und der Pastor eine katholische Familie auf.
Dieses Beispiel tätiger Nächstenliebe brach das Eis, und es dauerte nicht mehr lange, bis alle Vertriebenen aus der alten Schule eine Wohnung bekommen hatten.